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Der Yoga der Bhagavad Gita – vom hingebungsvollen Handeln

Eberhard Bärr, einer der gefragtesten Lehrer der traditionellen vedantischen Philosophie im deutschsprachigen Raum, hält von 2. – 4. August in Salzburg ein BYO-Seminar über die Philosophie der Bhagavad Gita. Zur Einstimmung bringen wir hier einen Text von ihm, der sehr gut beschreibt, wie die Psychologie des Yoga für uns Menschen von heute wirken kann. Gleichmut und Gelassenheit bilden den Schlüssel zur Selbst-Erkenntnis. Absichtsloses Handeln und Hingabe ebnen den Weg dorthin.

Wenn man sich mit einem Problem konfrontiert sieht und verzweifelt ohne Erfolg nach einer Lösung Ausschau hält, ist es sinnvoll, irgendwann eine andere Methode zu erwägen. Es ist ein Perspektivenwechsel. Man betrachtet die Situation, die einen belastet, aus einer anderen Perspektive heraus, und siehe da, es tun sich plötzlich Möglichkeiten auf, die man aus der vorherigen Perspektive niemals hätte sehen können.

Die alten Weisheitsschriften Indiens wie Patanjalis Yoga-Sutra oder die Bhagavad-Gita bezeichnet man auch als darśana, was unter anderem „Anschauung“ bedeutet. Also eine andere Art und Weise, mich selbst und die Welt zu sehen. In diesem Wissen wird meine übliche, alltägliche Sichtweise als egozentrische Sichtweise bezeichnet. Wie dieser Begriff bereits ausdrückt, bin ich immer das Zentrum und alles geschieht um mich herum. Menschen, Objekte, Situationen, Empfindungen, Gedanken und Gefühle – und ich bin irgendwie das Zentrum von all dem.

Üblicherweise bin ich nicht der bewusste Beobachter von all dem, was mich Yoga eigentlich lehren und erfahren lassen möchte, sondern ich bin eifrig und sehr persönlich mit all dem, was ich wahrnehme, beschäftigt. Dieses Beschäftigt-Sein, das in den äußeren Handlungen sichtbar wird, geschieht eigentlich immer in mir und wird als Absicht oder auch Karma bezeichnet. Verdichtet sich diese egozentrische Sichtweise, wie bei negativen Emotionen, Kummer, Sorge, Angst oder auch Stolz und Überheblichkeit, dann steigert dies die Intensität der Absichten und folglich auch die Intensität aller gedanklichen Vorgänge, die damit verbunden sind. Weitet sich die zentrierte Sichtweise weg vom Zentrum zu einer Art mehr räumlicher Sichtweise oder Wahrnehmung, dann schwächt dies die Intensitäten aller seelisch-geistigen Vorgänge, oder auch vṛtti in Sanskrit, wie es Patanjali in seinem Yoga-Sutra beschreibt.

Leben bedeutet Handlungen und es wäre unrealistisch, im Namen von Yoga oder Spiritualität allen Handlungen zu entsagen, was auch keinen wirklichen Sinn haben würde, da ja die wirkliche Handlung als Absicht weiter im Verborgenen existieren würde. Es ist daher sinnvoll, die besagte Perspektive zu ändern, womit sich dann folglich auch die Absichten ändern. Diese Empfehlung wird wohl nirgendwo deutlicher ausgedrückt als in dem indischen Weisheitstext Bhagavad-Gita mit den beiden Modellen des Bhakti- und Karma-Yoga.

Ergebungsvoll tu jedes Werk

und frei von irdischer Begier,

ob gut, ob schlecht der Ausgang sei;

bewahre stets den Gleichmut dir.

Bhagavad-Gita 2.48

 

 Absichtslos handeln

Im Dialog zwischen dem Schüler Arjuna und seinem Lehrer Krishna versucht Krishna seinem Schüler klar zu machen, was es bedeutet, eine Handlung auszuführen, ohne sie zu tragen. Was es bedeutet, dass ich äußerlich handele, aber die Handlung für mich innerlich nicht in Anspruch nehme, weder in negativer noch in positiver Weise, also weder gestresst noch mit Stolz oder Arroganz. Ich führe die Handlung praktisch aus und tue einfach das, was notwendig ist oder die Situation erfordert. Das hört sich zunächst sehr einfach an und ist es eigentlich auch. Aber durch eine sehr komplizierte, persönliche und emotionale Sichtweise erscheinen mir viele anstehende Handlungen im Leben bei weitem nicht einfach, sondern sehr kompliziert und komplex. Meine Sichtweise ist dann durch Verwirrung und Unklarheit getrübt.

In der Annahme, alleine und getrennt von allem als Zentrum zu existieren, suche ich Sicherheit, Geborgenheit, Wohlbefinden und Genuss und versuche einen gewissen Status in der Gesellschaft zu erreichen, was durch Karriere, Anreicherung von Wissen, jegliche Art von Perfektionierung oder auch durch Machtansammlung angestrebt wird. Durch diese Sichtweise oder Haltung dem Leben gegenüber entstehen sehr definierte Absichten, da die Ziele, die ich anstrebe, für mich etwas sehr Wichtiges oder sogar Existentielles darstellen. – Wobei Existenz natürlich immer gerade jetzt ist und nicht erreicht oder aufgebaut werden könnte. Der Satz „Ich muss mir eine Existenz aufbauen“ würde in den Ohren eines weisen Menschen wohl sehr seltsam klingen, da ich nicht wirklich etwas aufbauen kann, was bereits da ist.

Das ist auch der entscheidende Unterschied zwischen den beiden hauptsächlichen Abteilungen der vier Veden aus Indien. Diese sehr alten Weisheitstexte bestehen aus dem weitaus größten Teil, der karma śāstra, der Schriften der Handlungen, und der jñāna śāstra oder des Vedanta, was das Ende der Veden bedeutet, wo es nicht mehr um Handlungen geht, sondern um Erkenntnis. Der erste und größte Teil der vier Veden ist zuständig für Menschen, die von ihrer Unvollkommenheit überzeugt sind, sich als unfertig empfinden und gerne wissen möchten, was zu tun ist, um vollkommen oder irgendwie fertig zu werden. Damit gliedert sich der erste Teil der Veden in die wohl eher gängige Sichtweise vieler anderer Kulturen und Religionen ein, wo mir meine Unvollkommenheit sozusagen attestiert wird.

Im Vedanta und vor allem in der Bhagavad-Gita werden alle absichtsvollen Handlungen in den Präsentationen des Bhakti und Karma-Yoga hinterfragt. Hier wird die Behauptung aufgestellt, dass ich vollkommen bin, so wie ich bin. Ich kann dies aber nicht sehen und geschweige denn schätzen, da ich mit so vielen selbstzentrierten Handlungen im Rennen nach so vielen Zielen und Idealen verwickelt bin. Gemäß dieser Anschauung liegt das Problem also nicht in den nicht erreichten Zielen, sondern einzig und allein in der Unwissenheit meiner wahren Natur. Und diese Unwissenheit wird als einzige Ursache für Leid angesehen. Man bezeichnet diese Art von Unwissenheit über mich selbst als avidyā.

Es ist eigentlich nur diese Unwissenheit, die mich in so viele absichtsvolle Handlungen hinein treibt und sich als Eile und Stress in mir zeigt. Und daher setzt Krishna in seinen Lehren an Arjuna, der sich in einem gewaltigen Stress befindet, genau an diesem Punkt an: Die Art und Weise, wie ich handle. Er eröffnet ihm die Möglichkeit, eine Handlung nicht für sich in Anspruch zu nehmen, sondern abzugeben. Dieses Abgeben ist Hingabe. Es ist keine Hingabe an einen Guru, ein Gottesbild oder an irgendetwas außerhalb von mir. Es ist eine Hingabe, die aus Klarheit entsteht. Eine Klarheit darüber, dass mich jede egozentrische, absichtsvolle Handlung immer mehr in einen Ozean von geistigen Verwicklungen und Abhängigkeiten stürzt. Es ist die Klarheit, die mir jede Weisheitsschrift vor Augen halten möchte.

In der Lehre des Karma-Yoga wird eine ganz situationsbedingte und praktische Art der Handlung empfohlen. Ich führe nach bestem Wissen und Gewissen das, was meine Aufgabe ist, aus, indem ich lerne, achtsam und mit ganzem Herzen auf jede Situation einzugehen, ohne von einem sprunghaften Geist abgelenkt zu werden. Ich handele und plane dabei auch praktisch auf das Zukünftige hin. Aber das Zukünftige, das nur in Form von Gedanken in meinem Kopf existiert, besetzt mich nicht und erschafft keine eigene Wirklichkeit, was dazu führt, dass ich mit der eigentlichen Wirklichkeit, was immer im jetzt ist, gar nichts mehr zu tun habe. Das bedeutet, dass ich lerne, eine Aufgabe auszuführen, ohne mich persönlich zu kümmern, da das Kümmern zu Kummer führt.

Gleichmut entwickeln

Diese Lehre Krishnas in der Bhagavad-Gita drückt sich sehr klar im Vers 48 im zweiten Kapitel aus: „Ergebungsvoll tu jedes Werk, und frei von irdischer Begier, ob gut, ob schlecht der Ausgang sei; bewahre stets den Gleichmut dir.“ Ergebungsvoll zu handeln bedeutet, sich mit einer Handlung weder minderwertig noch überheblich zu identifizieren, sondern sie praktisch als eine Aufgabe auszuführen. „Irdische Begier“ sind all die Absichten, mit denen ich die Menschen, Objekte und Situationen in der Welt benutze, um meine Erfüllung im Leben zu erreichen, oder anders gesagt mich vom Gefühl des Unerfüllt-Seins zu befreien. Aber da dieses Unerfüllt-Sein niemals über das Außen beseitigt werden kann, möchte Krishna auf die absichtslose, spontane und situationsbedingte Handlung hinweisen, was er in seinen Lehren noch wesentlich weiter vertieft. Es ist eine Art des Handelns, die im weitesten Sinn in die Kategorie Intuition oder auch in die Analogie eines Flusses einzuordnen ist.

Im zweiten Teil dieses Verses geht Krishna dann auch auf die Ergebnisse der Handlungen ein, die manchmal so eintreffen, wie ich dies anstrebe oder mir gewünscht habe, und manchmal eben nicht. Und hier finden wir auch eine direkte Verbindung zum ganz praktischen Yoga des Patanjali, wo es um Entspannung und Gleichmut geht. Kommen die Ergebnisse wie erwartet als Lob, Erfolg oder Belohnung, dann bewahre ich Gleichmut und lasse mich nicht von Stolz oder Überheblichkeit vereinnahmen. Und wenn die Folgen meiner Handlungen als Kritik, Niederlage oder Verlust erscheinen sollten, bewahre ich ebenfalls den Gleichmut und damit auch Klarheit und lasse mich nicht in Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste fallen.

Wir sind darauf trainiert und konditioniert, uns mit Erfolg oder Niederlage emotional und sentimental zu identifizieren, was wir überall um uns herum erleben. – In vielen Filmen und Geschichten, die wir sehen, lesen oder hören und vorgelebt bekommen. Dadurch reißt es mich innerlich – auch im dauernden Vergleich zu anderen Menschen – zwischen Überheblichkeits- und Minderwertigkeitskomplex hin und her. Ich bin dann wirklich manchmal der Supermann und Heilige und manchmal der nutzlose Mensch, der sich auf der Verliererseite sieht. Klarheit und Wissen bedeutet zu erkennen, dass dies lediglich Identifikationen mit sich ständig veränderten Situationen des Lebens sind und nichts darüber aussagen, was ich jenseits all dieser Situationen wirklich bin.

Um mit dieser Wirklichkeit meines Selbst wieder Kontakt aufzunehmen, bedarf es einer inneren wachen Ruhe, die ich unter den Idealbedingungen der Yoga-Praxis und -Meditation und einer gewissen Einstellung und Haltung in den täglichen Handlungen erlerne. Es ist die Haltung der Dankbarkeit für all das, was ich an Erfolg im Leben habe, ohne diesen für mich in Anspruch zu nehmen. Eine Aussage oder innere Haltung wie: „Das habe ich alles mit meinen eigenen Händen aufgebaut.“ entspringt der egozentrischen Sichtweise, woraus dann der Anspruch nach Anerkennung, Dank und Huldigung folgt. Dies führt in weiterer Verkettung zu Verletzungen, Eifersucht oder Gewalt. Bei genauerer Betrachtung von Erfolg sollte klar werden, dass ich bisher einfach nur Glück hatte, denn in jeder Sekunde kann etwas geschehen, was mein Leben in eine vollkommen andere Richtung dreht. Dankbarkeit ist die einfachste Art abzugeben, ohne dass etwas in der Vergangenheit an Wert verliert.

Geschieht das Gegenteil, das Ergebnis meiner Handlungen ist unwillkommen und ich erlebe Misserfolg, identifiziere ich mich damit als ein Versager oder aber die Arroganz und der Stolz behalten die Oberhand und ich mache sprichwörtlich Gott und die Welt für den Misserfolg verantwortlich. Auch hier braucht es wohl nicht weiter erwähnt zu werden, was dies alles an negativen Folgeerscheinungen nach sich ziehen wird.

Wie angespannt oder auch spannungsfrei mein Leben vor allem im zwischenmenschlichen Bereich verläuft, wird durch die Einstellung oder innere Haltung dem Leben oder der Welt gegenüber bestimmt. Üblicherweise überprüfe ich diese Haltung oder Perspektive bei mir nicht, da ich intensiv und ständig mit dem Äußeren beschäftigt bin.

Für das Innehalten im Strom der Handlungen und Gedanken und eine Reflexion meines Selbst sind die alten Weisheitsschriften ein wunderbares Mittel. All diese Texte nehmen auch nicht mehr in Anspruch, als ein Mittel zu sein, das man nutzen und nicht verehren sollte. Es ist ein Mittel, das zu beseitigen, was wirklich zwischen mir und meinem Glück steht. In der egozentrischen Sichtwiese glaube ich, dass so vieles zwischen mir und meinem Glück steht, und daher gehe ich mit vielen persönlichen Absichten durch die Welt, um ständig alles so zu ändern und zu manipulieren, dass es irgendwann einmal endlich für mich passt. Es ist ein Fass ohne Boden. Nur wenn ich dies allmählich bemerke, wird ein Wissen dieser Art für mich interessant.

Vom Handeln zum Zuschauen

Mit diesem zunehmenden Verständnis wird sich meine Prioritätenliste vom absichtsvollen Handeln zum achtsamen Zuschauen ändern. Dies drückt Krishna im folgenden Vers 49 im zweiten Kapitel aus: „Erhaben über alles Tun, für immer die Erkenntnis bleibt, in der Erkenntnis such Schutz, verächtlich ist, wen Lohnsucht treibt.“ Hier wird der Erkenntnis mehr Wert beigemessen als jeder noch so edlen und noblen Handlung, die ja dennoch immer einer sehr persönlichen Absicht entspringt. Jeder meint es vom subjektiven Standpunkt her immer nur gut. Selbst ein gewalttätiger Diktator glaubt subjektiv mit seinen wahnsinnigen Ideen das Richtige zu tun. Wie viele Menschen wurden in der Geschichte im Namen Gottes, also im Namen des Guten, der Freiheit oder der Demokratie getötet? Es stehen auch hinter allen zerstörerischen Kräften immer sogenannte gute Absichten mit ihren verrücktesten Ideologien, da der menschliche Intellekt letztendlich jede Tat irgendwie rechtfertigen kann.

Es sind diese Absichten in mir, die in den Weisheitsschriften sehr genau betrachtet und untersucht werden. Ich kann niemals die Absichten eines anderen Menschen kennen, auch wenn ich mit ihm oder ihr schon 50 Jahre zusammen lebe. Und selbst meine eigenen Absichten kennen zu lernen, braucht viel Ruhe und Klarheit, zu der mir Yoga verhilft. Wenn mir diese Absichten und damit meine egozentrische Sichtweise bewusst werden, mache ich wirklich von der Freiheit Gebrauch, die ich als ein bewusstes Wesen habe. Dann kann ich dieses sonderbare Spiel des Egos, über das die Weisheitstexte sprechen, in mir erkennen. Und dann suche ich keinen Schutz und keine Sicherheit mehr in irgendetwas, das ich mir aufbauen müsste, sondern so wie es die Bhagavad-Gita beschreibt, finde ich Schutz in der Erkenntnis. Mit dieser zunehmenden Erkenntnis werden meine Handlungen natürlich und situationsbedingt praktisch und die Haltung der Hingabe gegenüber allem Leben entspringt einer einfachen inneren Klarheit. Dies ist ein rein interner Prozess und gleichzeitig der beste Beitrag zu einer friedlicheren Koexistenz mit allen Wesen auf dieser Welt.

Eberhard Bärr wurde in Indien zum Yogalehrer im Vivekananda-Institut in Bangalore ausgebildet. Er verbrachte zehn Jahre mit seinem Lehrer Sukumar in Südindien und hielt dort und in Europa mit ihm zusammen Seminare. Er leitet seit vielen Jahren spirituelle Reisen, gibt regelmäßig Seminare in Deutschland, Österreich und der Schweiz und ist als Referent in der Yoga-Lehrausbildung tätig. Mehr dazu auf seiner Website www.upasana.de

 

 

 

Bhagavad Gita, Eberhard Bärr