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Warum braucht Yoga Philosophie? Patanjalis Yoga-Sutra als Philosophie einer praktischen Lebensform

Arno Böhler ist Philosoph und Mitbegründer des Forschungszentrums “BASE. Art Philosophy Ecology IPL” in Tamil Nadu. 2017 stellte er in Wien im Rahmen einer BYO-Weiterbildung die Frage: Warum braucht Yoga Philosophie?

Wir brachten damals zum Einstieg einen Ausschnitt aus einem Interview mit Arno Böhler zu Themen aus den Yoga-Sutren Patanjalis. Das vollständige Interview ist in dem Buch „Yoga-Dimensionen. Einblicke in ein zeitgenössisches Phänomen“ abgedruckt. Stefanie Haller (Hg). Agru Printverlag HTR, 2014, ISBN 978-3-9503048-79. Es wurde im Info 01/15 rezensiert und liegt in der Verbandsbibliothek als Leihexemplar auf.

In den Yoga-Sutren von Patañjali werden fünf Hindernisse (kleshas) genannt, die uns im Weg stehen, das Ziel von Yoga (samdhi) zu erreichen. Das erste und grundlegendste Hindernis ist avidya, die Unwissenheit. Ein verwirrter Zustand, in dem wir  fälschlicherweise glauben, etwas sei gut – in Wirklichkeit stellt sich dann aber heraus, dass es schlecht war usw. Unter der Herrschaft von avidya – der Unwissenheit – verwechseln wir die Dinge und nehmen an, dass das Ewige vergänglich und das Vergängliche ewig sei. Nach indischer Lehre ist der Mensch von Geburt her in diese Verwirrung hineingeboren. Sie ist also keine Folge seiner Taten, keine Erbsünde, wie im jüdisch-christlichen Denken, sondern eine Disposition, in die Lebewesen per Geburt geraten, solange sie in Leid erzeugende Welten geboren werden. Durch diese fatale Disposition trifft man falsche Entscheidungen. Unter dem Regime von avidya treffen wir sogar mit bestem Wissen und Gewissen immer wieder falsche Entscheidungen, kraft einer tiefgründigen Verwechslung, die das Falsche für das Richtige nimmt und umgekehrt.

Das zweite klesha ist asmita. Asmita ist das Hindernis einer falschen Ich-Zentrierung. Weil wir es für gewöhnlich nicht vermögen, das Leben aus der Tiefe der yogischen Sammlung (samadhi) her zu tätigen und zu vernehmen, verengen wir uns. Wir fallen dadurch quasi aus unserer Welt-Offenheit heraus. Diese Verengung unserer Welt-Offenheit heißt im Sanskrit dukha, Schmerz. Statt in der Welt-Offenheit Platz zu nehmen, verkriechen wir uns in unserer »Ich-Perspektive«. Das heißt, wir leben nicht mehr zwischen den anderen inmitten der von uns allen gemeinsam geteilten Welt-Offenheit, sondern wir ziehen uns auf uns selbst zurück. Das führt zu einer unheilvollen Ich-Zentrierung, kraft der nun jede bzw. jeder glaubt, sich selbst die Nächste bzw. der Nächste zu sein. Man identifiziert sich von nun an mit dem Nullpunkt seiner eigenen leiblichen Ich-Perspektive. So, als ob alle Beziehungen zur Welt perspektivisch von mir ausgehen würden und zu mir selbst zurücklaufen würden.

Samadhi ist quasi das Gegenteil von asmita. Es ist ein Zustand, in dem es so scheint, als ob diese unheilvolle Ich-Zentrierung mit einem Mal verschwunden wäre. In diesem Seinszustand wird nicht mehr so sehr zwischen mir und dir unterschieden, vielmehr steht die eine, von uns allen kollektiv geteilte Welt, die wir auf unterschiedliche Art und Weise tätigen und beleben, im Mittelpunkt. Identifizieren wir unser Selbstsein hingegen mit unserer Ich-Zentrierung, dann kommt es zu einer Verengung von uns selbst, die Angst produziert. Wir entfremden uns damit von der Welt-Offenheit, die sich jetzt ichhaft zu verschließen beginnt und plötzlich als eine uns fremde, befremdliche Welt gegenübersteht, in der wir uns nicht wiedererkennen können. Diese falsche Ich-Zentrierung wird nach indischer Lehre kulturell erlernt. Daher kann sie auch wieder dekonstruiert, d.h. »verlernt« werden.

Wenn uns avidya, die Unwissenheit, verwirrt hat und wir nicht mehr wissen, wo links und rechts, oben und unten ist; und wenn sich darüber hinaus auch noch eine falsche Ich-Zentrierung kulturell eingeübt hat, dann bilden sich auf dem klesha-Baum, der uns auf dem Weg zu samadhi hemmt, noch zwei weitere Äste aus, die uns von der Erfahrung des samadhi abhalten – raga und dvesha – das dritte und vierte Hindernis auf dem Yogaweg. Raga ist die Gier, die uns Glück verheißt, aber Leid bringt. Wir glauben, glücklich zu werden, wenn wir uns ein bestimmtes Auto kaufen, einen bestimmten Job haben, eine bestimmte Frau oder einen bestimmten Mann heiraten; am Ende zeigt sich die Entscheidung aber als unheilvoll. Das ist raga, die Gier nach Glück, die Unglück bringt. Dvesha teilt mit raga dieselbe Struktur, aber in umgekehrter Richtung. Dvesha ist eine unbegründete Abwehr, ein Ressentiment oder eine Aversion gegen jemand oder etwas, die nicht berechtigt ist. Wir hegen gegen jemanden Aversionen, obwohl er oder sie uns gar nichts getan haben. Aufgrund peinigender, vielleicht sogar traumatischer Erfahrungen übertragen wir etwas auf jemanden, der mit unserer Verletzung gar nichts zu tun hat. Ein einfaches Beispiel. Der Chef eines Büros hatte einen Streit mit seiner Frau. Jetzt geht er ins Büro und schreit dort seine Angestellten an, die für den Streit mit seiner Frau überhaupt nichts dafür können. Offensichtlich hat er sein privates Unglück in dieser Situation auf die Angestellten übertragen. Oft zeigt sich dvesha bei Leuten auch so, dass sie unfähig sind, sich von anderen Leuten helfen zu lassen. Auch das ist eine unheilvolle Disposition und daher ein Hindernis auf dem Yogaweg; denn eigentlich wäre in diesem Fall ja jemand da, der uns helfen möchte; aber aufgrund peinigender Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit erlitten haben, lassen wir uns in diesem Fall nicht helfen, weil wir eine unbegründete Aversion gegen alle verspüren, auch wenn sie es eigentlich gar nicht »verdient« hätten. Unter dem Regime eines solchen Unbehagens »gegen alle« lässt man schließlich niemanden mehr an sich heran; auch jene nicht, die uns »gut« sind. In diesem Fall glauben wir fälschlicherweise, dass jemand »ungut« ist, obwohl er oder sie uns eigentlich wohl gesonnen ist.

Das letzte und hartnäckigste Hindernis auf dem Weg zu samadhi ist abhinivesha, die Todesangst. Solange das Leben unter dem Regime der fünf kleshas vollzogen wird, produzieren wir in der Welt ein Klima der Angst. Die Verblendung durch Unwissenheit (avidya), falsche Selbstzentrierung (asmita), Gier (raga) und unbegründete Aversion (dvesha), all diese Faktoren lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie Angst (abhinivesha,) erzeugen. Yoga wird im zweiten Kapitel der Yoga-Sutren definiert als ein Weg zu samadhi, der die fünf Hindernisse reduziert, indem er sie durch die Übung des achtgliedrigen Yogaweges sukzessive »aushungert«. Yoga zu praktizieren, heißt daher, darauf zu achten, dass unsere Unwissenheit reduziert wird, dass unsere falsche Ich-Zentrierung reduziert wird, dass unsere unbegründete Gier und unsere unbegründeten Aversionen reduziert werden. Wenn wir das alles mit großer Sorgfalt, Entschlossenheit und Aufmerksamkeit tun, dann wird letztlich das Regime der Angst in der Welt reduziert. Und genau das ist Yoga! Damit wird der Weg frei für die Erfahrung von samadhi.

Text gekürzt von Eva Panny-Rosenberg und Florian Bauer.

Zur Person
Arno Böhler ist Universitätsdozent am Philosophischen Institut der Universität Wien und Mitbegründer des Forschungszentrums “BASE. Art Philosophy Ecology IPL” in Tamil Nadu. Er hat mehrere Jahre in Indien gelebt (u. a. Yoga-Unterricht bei T.K.V. Desikachar) und eine Reihe von Texten zur indischen Philosophie verfasst. 

Derzeit leitet er auch das FWF-Forschungsprojekt “Künstlerphilosophen. Philosophy ALS künstlerische Forschung” an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Arno Böhler, Patanjali, Philosophie, Yoga Sutra