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„Mein Kopf funktioniert wieder“ – Yoga mit dementen Menschen

Karl geht es heute nicht gut. Seit einiger Zeit besuche ich ihn auf der Demenzstation eines Pflegeheims, um mit ihm Yoga zu praktizieren. Er erkennt mich jedes Mal nicht wieder, seit Neuestem strahlt er aber, wenn er mich sieht. Er weiß nicht, wo er sich befindet und kann sich auch zeitlich nicht mehr orientieren. Karl macht gerne galante Scherze gegenüber Frauen und pfeift laut auf dem Gang, damit sein Bruder, der auf derselben Station ist wie er, weiß, dass er da ist. Karl ist der Typ Mann, bei dem einem so ziemlich als letztes Yoga einfällt. „Mein Kopf ist kaputt“, klagt er und fasst sich an die Stirn. Ich frage Karl achtsam, ob Berührung für ihn in Ordnung ist. Dann lasse ich meine Hände in ruhigen Nuad Thai Yoga-Griffen über sein Schulterdach wandern, um ihn zu entlasten und Wohlbefinden zu schenken. Er fühlt sich dadurch motiviert und wir praktizieren gemeinsam 30 Minuten adaptierte Asanas und Pranayama. Karl gelingt es, ganz bei der Sache zu bleiben. Dank Selbstberührung beim Atmen gelingt es ihm, seinen Atem wahrzunehmen, auch seine Füße und deren Kontakt mit dem Boden kann er spüren. Ein großer Erfolg, da Menschen in Karls Stadium der Demenz zunehmend verlorengehen in Raum und Zeit. Am Ende der 30 Minuten macht Karl einen Luftsprung und ruft: „Mein Kopf funktioniert wieder. Ich fühle mich 20 Jahre jünger!“ Zweifellos handelt es sich dabei um Karls subjektives Empfinden. Doch ist Karl damit lediglich ein Einzelfall? Und welche medizinischen Belege für die Wirksamkeit von Yoga bei Demenz gibt es? Inzwischen existiert dazu eine ganze Reihe von ausschließlich englischsprachigen Studien aus den Bereichen Geriatrie, Gerontologie und geriatrische Psychiatrie.[1] Sie zeigen, dass und wie Yoga bei Menschen in verschiedenen Stadien von Demenz wirkt und dass sich durch Yoga Demenz vorbeugen lässt.[2]

Das könnte eine gute Nachricht für viele Menschen sein. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Demenz nämlich eine der Hauptursachen für Behinderungen und Abhängigkeit bei älteren Menschen weltweit. Etwa 55 Millionen Menschen leben mit Demenz, und jährlich kommen rund 10 Millionen neue Fälle hinzu. Prognosen zufolge könnte sich die Zahl der Demenzerkrankungen bis 2050 nahezu verdreifachen, was auf die steigende Lebenserwartung und das Bevölkerungswachstum zurückzuführen ist.[3]

​Rund 70 % der auftretenden Demenzen sind dem Typ Alzheimer zuzurechnen. Bei Alzheimer handelt es sich um eine letztendlich tödlich verlaufende Erkrankung des zentralen Nervensystems, für die es bisher keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten gibt. Die Alzheimer-Demenz zählt zu den sogenannten primären Demenzen, bei denen das demenzielle Verhalten (kognitive Veränderungen etc.) direkt auf Gehirnveränderungen zurückzuführen ist. Sie beginnt meist zwischen 65 und 80 Jahren. Alzheimer basiert auf dem Ausfall oder Tod von Nervenzellen und Nervenzellverbindungen in diversen Gehirnregionen. Vor allem zwei Biomarker sind mit der Krankheit assoziiert. Zum einen handelt es sich um Beta-Amyloid-Ablagerungen um die Nervenzellen herum, sogenannte Plaques. Zusammen mit den Plaques sind Neurofibrillen aus dem Tau-Protein kennzeichnend für Alzheimer, die sich in Form von Knäueln in den Neuronen ablagern.

Dies führt zu einer Vielzahl von Symptomen. Zum einen sind die kognitiven Fähigkeiten Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen beeinträchtigt. Außerdem kommt es zu Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens und der Motivation. Biografische Erfahrungen (besonders Traumata und nicht verarbeitete Verluste) haben einen starken Einfluss darauf, wie die Symptome aussehen. Neben der Genetik haben auch Faktoren wie Ernährung, Bildung und Bewegung einen Einfluss auf die Entstehung von Alzheimer. Die Erkrankung tritt überwiegend im höheren Lebensalter auf. Das Alter gilt daher als zentraler Risikofaktor.

Die Studien, die sich mit den Auswirkungen von Yoga auf Menschen mit Demenz und von Yoga im Hinblick auf Demenz-Prävention beschäftigen, betrachten unterschiedliche Formen des Yoga, und zwar Chair Yoga, Hatha-Yoga, Kundalini Yoga und Silver Yoga. Der Yoga-Unterricht setzte sich bei allen Studien aus Körperübungen, Atemübungen sowie Konzentrations- und Meditationsübungen zusammen. Insgesamt belegen die Studien, dass das Praktizieren von Yoga bei Demenzbetroffenen die kognitiven Funktionen – Erinnerungsvermögen und Aufmerksamkeit -, den Schlaf, die Stimmung und sogar die neuronale Vernetzung verbessert.[4] In den elf randomisierten kontrollierten Studien, die an der School of Aging Studies an der University of South Florida ausgewertet wurden, wurden über 900 TeilnehmerInnen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Therapien mit Yogabezug das Erinnerungsvermögen, die exekutiven Funktionen, die Aufmerksamkeit und die Verarbeitungsgeschwindigkeit bei älteren Erwachsenen mit und ohne kognitive Beeinträchtigung verbessern.[5]

 

Yoga als Antwort auf das Ringen um das Personsein

Die besondere Stärke von Yoga meiner eigenen Erfahrung aus der Yogapraxis mit dementen Menschen zufolge ist: Demente Menschen dabei zu unterstützen, zu empfinden: “Ich bin!” und sich im Hier und Jetzt zu erleben. Besonders maßgeblich ist dabei die Arbeit mit dem Atem. Denn: „Das ist das eigentliche Thema, um das es in der Demenz geht. Ein oft verzweifeltes Ringen um das Personsein und die Subjekthaftigkeit.“[6] Dies hat verschiedene Facetten: Demente Menschen leiden darunter, sich zunehmend zeitlich und örtlich nicht mehr orientieren zu können, sowie an der Unruhe, die daraus resultiert. Durch Verschränkungen von Gegenwart und Vergangenheit verändert sich die Wahrnehmung der Realität. Erinnerte Ereignisse werden nicht mehr als vergangen und abgeschlossen wahrgenommen, sondern auf der Gegenwartsebene erlebt. Damit wird die Ich-Identität der Person mit Demenz brüchig. Demente Menschen leiden zudem daran, dass sie nach und nach ihre Körpergrenzen kaum oder nicht mehr wahrnehmen können, was die Unsicherheit noch verstärkt. Mit fortschreitender Demenz verlieren die Menschen auch ihre Sprache.

Meine These lautet: Yoga ist eine geradezu kongeniale Antwort auf Demenz. Durch die Yogaphilosophie, die einen ganzheitlichen Blick auf den dementen Menschen eröffnet. Und durch die Yogapraxis, die Menschen dort trifft, wo Worte nicht mehr reichen und ihnen Halt, Berührung und innere Heimat bietet. Durch Yoga kann auf einer vorbewussten Ebene Lebendigsein erlebt werden: „Ich bin“. Der Verstand kann nicht mehr signalisieren, wer man ist. Aber durch Yoga kann das „Selbstbild“ gespürt werden.

Yogaphilosophie als ganzheitlicher Blick auf Demenz

Sowohl Yoga als auch das Leben mit Demenz führen uns an existenzielle Schwellen, lassen uns fragen: Wer bin ich, wenn ich nicht (mehr) funktioniere? In der yogischen Sichtweise besteht der Mensch nicht nur aus seinem Denken oder Gedächtnis. Der Mensch ist ein vielschichtiges, spirituelles Wesen – mit Körper, Energie, Emotion, Weisheit und innerem Licht. In der Demenzarbeit bedeutet das: Auch wenn Sprache, Orientierung oder Erinnerung verblassen – die tieferen Ebenen des Menschseins bleiben erhalten. Präsenz, Empathie, Körpergefühl, Atem, Klang, Intuition und Herzverbindung wirken weiterhin – oft sogar intensiver. Insbesondere die Pañca-Kosha-Lehre aus der Philosophie des Vedanta ist hier maßgeblich. Sie beschreibt das Selbst als eingebettet in fünf Hüllen, die durch yogische Praxis, Erkenntnis und Achtsamkeit durchdrungen werden können, bis hin zum Atman, dem innersten Licht des Seins. Diese fünf Hüllen beschreiben verschiedene Ebenen des Menschseins. Folgende Schichten werden unterschieden:

·      Annamaya Kosha – Die Körperhülle

Die Annamaya Kosha ist die äußerste und greifbarste Hülle. Sie beschreibt den physischen Körper, der aus „Anna“ – also Nahrung – aufgebaut ist. Dazu gehören Muskeln, Knochen, Gewebe und Organe. Diese Hülle steht in direkter Verbindung zu Bewegung, Ernährung und Gesundheit. In der Yogapraxis wird sie durch Asana, gesunde Lebensweise und bewusste Körperpflege angesprochen und gepflegt.

·      Pranamaya Kosha – Die Energiehülle

Die Pranamaya Kosha umfasst die Ebene der Lebensenergie – Prana –, die den physischen Körper durchdringt und ihn mit Vitalität versorgt. Diese Energie bewegt sich durch feinstoffliche Kanäle, die Nadis genannt werden, und ist eng verbunden mit dem Atem. Atmung, Lebenskraft und innerer Schwung sind Ausdruck dieser Hülle. Pranayama, bewusste Atemlenkung und energetische Achtsamkeit unterstützen ihre Harmonisierung.

·      Manomaya Kosha – Die mentale und emotionale Hülle

Die Manomaya Kosha bildet die Ebene des Geistes, der Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen. Hier entstehen Bewertungen, Erinnerungen und emotionale Reaktionen. Diese Hülle ist ständig in Bewegung und reagiert auf äußere wie innere Impulse. Sorgen, Freude, Reizbarkeit oder Empathie entstehen in dieser Schicht. Yogisch wird sie durch Meditation, Achtsamkeit und Selbstreflexion beruhigt und geklärt.

·      Vijnanamaya Kosha – Die Hülle der Weisheit und Intuition

Die Vijnanamaya Kosha ist die intuitive und unterscheidende Instanz im Menschen, die tiefes Verstehen, inneres Wissen und moralisches Urteilsvermögen ermöglicht. Sie befähigt uns zu Klarheit, Ethik und bewusster Lebensführung. In der Praxis wird sie durch kontemplative Übungen, philosophisches Studium (Svadhyaya) und die Entwicklung von Unterscheidungskraft (Viveka) gestärkt.

·      Anandamaya Kosha – Die Glückseligkeitshülle

Die Anandamaya Kosha beschreibt die tiefste, innerste Schicht des Seins. Sie ist der Sitz der Glückseligkeit (Ananda)– nicht im Sinne eines emotionalen Hochgefühls, sondern als stiller, friedvoller Zustand reinen Seins, jenseits von Gedanken und Emotionen. In meditativen Momenten, tiefer Hingabe oder kontemplativer Stille kann diese Hülle erfahrbar werden.

In der yogischen Sicht ist Demenz kein Verlust des Selbst, sondern ein Wandel in den äußeren Hüllen. Das wahre Wesen eines Menschen – seine Präsenz, sein Herz, sein inneres Licht – bleibt unangetastet. Die Yogaphilosophie erinnert uns daran: der Mensch ist mehr als seine Symptome; Wert, Würde und Bewusstsein liegen tiefer als Sprache und Denken; und Verbindung bleibt auf vielen Ebenen möglich – auch bei schwerer Demenz. Ein entsprechend angepasstes Yoga kann auch bei dementen Menschen alle fünf Ebenen des Menschseins ansprechen.

Herausforderungen eines adaptiven Yoga für Demenzbetroffene

YogalehrerInnen stehen im Umgang mit dementen Menschen und bei der Gestaltung angemessener Stunden vor besonderen Herausforderungen. Zuallererst: Viele Menschen mit Demenz verlieren die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren. Wir als Lehrende müssen also eine Atmosphäre schaffen, die es ermöglicht, dass die Betroffenen die Übungen als Vergnügen erleben und sich gut aufgehoben fühlen. Wir bieten Wohlbefinden an. Folgendes ist in der Arbeit mit dementen Menschen zentral: Emotionen zu erkennen und Emotionen zu wecken. Das heisst für uns YogalehreInnen: Bestandteil einer angemessenen adaptiven Yogapraxis ist es, Emotionen zu erkennen, Emotionen zu wecken und gemeinsam Emotionen wie Unbeschwertheit und Lebensfreude zu erleben.

Dabei bestimmt die Akzeptanz des Wirklichkeitserlebens des Demenzbetroffenen das Verhalten, und nicht der Wunsch nach Korrektur. Wir folgen den Betroffenen in die „magische Welt von Alzheimer“.[7] Diese Bezeichnung soll nicht die Krankheit verklären, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass Betroffene oft in einer anderen Realität leben, die für Außenstehende schwer verständlich sein kann. Die Welt von Menschen mit Demenz wirkt für Außenstehende zwar surreal, für die Betroffenen hat sie aber eine innere Ordnung und Logik. Drei Grundhaltungen werden in der Literatur zu Demenz für einen gelingenden Umgang immer wieder genannt: Einfühlungsvermögen, Wertschätzung und Echtheit. Diese Grundhaltungen gelten auch für uns als YogalehrerInnen. Yoga mit Demenzbetroffenen erfordert also weniger Technik als Haltung – im doppelten Sinne. Zuwendung, Achtsamkeit und Flexibilität sind der Schlüssel. Wir werden von der YogalehrerIn zur YogapartnerIn. Yoga ist in diesem Kontext ein Ausdruck von Präsenz, Annahme und Menschlichkeit.

Validation nach Naomi Feil als Schlüssel für einen Yogaunterricht von Herz zu Herz

In der Yogapraxis mit Menschen mit Demenz stoßen viele Lehrende an Grenzen: Versteht mich mein Gegenüber? Warum ist sie/er heute so unruhig? Wie kann ich die Gruppe halten, wenn manche weinen, andere abschweifen und wieder andere sich verschließen? Die Validation nach Naomi Feil kann hier ein kraftvolles Werkzeug sein. Zum einen als Haltung, die das menschliche Sein hinter der Demenz anerkennt und würdigt. Sie lehrt uns: Nicht die Übung zählt – sondern zuallererst die Verbindung. Sie ermöglicht es uns außerdem, zu erkennen, welche unterschiedlichen Bedürfnisse die Menschen haben, je nachdem, in welchem Stadium der Demenz sie sich befinden, und ermöglicht es uns, angemessen darauf zu reagieren. Die Validation wurde in den 1970er Jahren von der Sozialarbeiterin Naomi Feilentwickelt. Sie erkannte, dass logische Erklärungen oder Korrekturen Menschen mit Demenz eher verunsichern oder beschämen als ihnen zu helfen. Stattdessen setzt Validation auf empathische Begleitung an Stelle von Beurteilung.[8]In vielen Pflegeheimen, Tageszentren und Demenzinitiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist Validation inzwischen ein bewährter Ansatz im Umgang mit desorientierten Menschen. Yoga und Validation bilden eine Herzensallianz, denn: Die Philosophie der Validation deckt sich erstaunlich mit dem yogischen Menschenbild: Der Mensch ist mehr als sein Denken. Sein Wert liegt nicht in Leistung, sondern im reinen Dasein. Yoga wird zur achtsamen Begleitung, die Körper, Atem und Herz als Zugänge nutzt. Naomi Feil unterscheidet vier Stadien der Desorientierung. Im Folgenden möchte ich erläutern, wie Yoga konkret jeder dieser Lebensphasen gerecht werden kann.

1. Mild desorientiert – „Verwirrtheit hinter der Fassade“

Menschen in diesem Stadium zeigen leichtes Vergessen und wirken häufig verunsichert. Sie versuchen, Defizite durch Notizen oder Ausreden zu kompensieren. Schamgefühle und Stimmungsschwankungen treten ebenfalls häufig auf. In dieser Phase brauchen Betroffene vor allem die Anerkennung ihrer Gefühle. Ihre Würde und ihr Selbstwert sollten unbedingt gewahrt bleiben. Sie benötigen Struktur, Orientierung und Sicherheit sowie eine vertrauensvolle Beziehung – ohne Belehrung oder Korrektur. Im Yogaunterricht empfiehlt es sich, mit klaren Ritualen, einfacher Sprache und gut strukturierter Anleitung zu arbeiten. Übungen sollten kleine Erfolgserlebnisse ermöglichen. Diese Menschen möchten erleben: Ich kann noch etwas! Positive Verstärkung ist wichtig. Atemarbeit zur Erdung kann stabilisierend wirken. In diesem ersten Stadium, so hilfreich sie später ist, kann Berührung problematisch sein. Schnell entsteht das Gefühl, bevormundet oder entblößt zu werden. Unerwartete Nähe oder körpernahe Berührungen können als grenzüberschreitend empfunden werden. Stattdessen kann mit Blickkontakt, einem Lächeln oder verbaler Zuwendung gearbeitet werden. Körperkontakt kann durch visuelle Anleitung ersetzt werden, etwa nach dem Prinzip: „Ich zeige es dir – du machst es.“ Ohnehin sollten Berührungen immer nur nach vorheriger Ankündigung und mit Zustimmung erfolgen.

2. Moderat desorientiert – „Rückzug in die Vergangenheit“

In dieser Phase treten lebhafte Erinnerungen an die Vergangenheit auf. Emotionale Themen wie die Suche nach Angehörigen werden präsent. Gleichzeitig kommt es zu Konfusion und teils realitätsfernen Aussagen. Die betroffenen Personen sehnen sich nach biografischer Resonanz und Wiedererkennung. Emotionale Sicherheit entsteht durch Rituale, Musik und Bilder. Ihre innere Welt sollte nicht korrigiert, sondern als gültig angenommen werden. Emotionale Verbindung geschieht über Nähe, Stimme und Mimik. Empfehlenswert sind Übungen mit biografischem Bezug, etwa „Apfel pflücken“. Musik, Lieder oder Reime aus früheren Zeiten können eingebunden werden. Ein ruhiger Atemfluss und einfache Wiederholungen helfen bei der Orientierung. Gemeinsames Tönen, zum fördert die emotionale Verbindung. Vertraute, sanfte Berührungen – besonders an Händen oder Schultern – werden in diesem Stadium meist positiv erlebt. Rhythmische Rituale wie ein Schulterklopfen zur Begrüßung schaffen Sicherheit. Auch in diesem Stadium sollte auf körperliches Korrigieren verzichtet werden. Stattdessen wird gemeinsam und im eigenen Tempo geübt.

3. Schwer desorientiert – „Ausdruck durch Körpersprache und Symbolik“

In diesem Stadium ist die Sprache reduziert oder nicht mehr zielgerichtet. Ausdruck erfolgt über Gesten, Mimik und Wiederholungen. Symbolische Handlungen, Unruhe und ein gesteigertes Bedürfnis nach Berührung sind häufig. Zentral sind körperliche Sicherheit und Nähe. Kommunikation erfolgt vorwiegend nonverbal. Gleichmäßige Reize und eine ruhige, liebevolle Präsenz sind essentiell. Sanfte Bewegungen im Sitzen sind gut geeignet. Berührung wird zur Hauptsprache. Rhythmische, sanfte Berührungen wirken tief beruhigend. Funktionale oder hastige Berührungen können hingegen verstörend sein. Auch das Halten der Hände oder das Streicheln der Schultern kann unterstützend wirken. Tuch- oder Klangberührungen können eine sanfte Alternative darstellen. Eine bewusste, langsame Annäherung mit Blickkontakt ist wichtig.

Atemarbeit kann über Summen oder den Einsatz eines Tuchs vermittelt werden. Das heißt: Der Atem wird nicht direkt verbal oder bewusst gelenkt (z. B. durch Anweisungen wie „Atme tief ein und aus“), sondern indirekt, sanft und körperlich erfahrbar gemacht – durch Stimulation, Rhythmus oder Resonanz. Beim Summen (z. B. ein langes „mmm“ oder ein Ton wie „Om“) wird automatisch lang ausgeatmet, ohne dass man „bewusst“ atmen muss. Das ist besonders hilfreich für Menschen, die nicht mehr gut auf verbale Anleitungen reagieren, unbewusst in einer flachen Atmung feststecken, oder sich mit der bewussten Atembeobachtung schwer tun. Auch ein leichtes Tuch kann genutzt werden, um den Atem über Berührung und Bewegung spürbar zu machen. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten. So kann die YogalehrerIn das Tuch auf den Bauch des Teilnehmers/der TeilnehmerIn legen. Beim Einatmen hebt es sich, beim Ausatmen sinkt es – der Atem wird sichtbar, spürbar, erfahrbar. Ist diese Bewegung zu fein, um wahrgenommen zu werden, kann man auch einen Redondo-Ball verwenden. Eine zweite Möglichkeit: Das Tuch kann wie eine Welle bewegt werden. Der/die TeilnehmerIn spürt Rhythmus, wird sanft zum Mitatmen angeregt. Oder: Das Tuch wird über die Hände geführt – mit der Einatmung hoch, mit der Ausatmung runter – wie ein tänzerisches Atembild.

Die Anleitung der Übungen erfolgt nonverbal durch Vormachen.

4. Vegetierend – „Innere Rückkehr ins Sein“

Menschen in diesem Stadium können nur noch im Einzelsetting durch Yoga begleitet werden. Sieverfügen über keine bewusste Sprache mehr. Ihre Bewegungen sind stark reduziert. Reaktionen zeigen sich vor allem auf vertraute Sinnesreize wie Stimme, Duft oder Klang. Wesentlich sind Geborgenheit, Würde und eine feinfühlige Berührung. Rhythmus, Klang und Atem sowie ein still begleitendes „Da-Sein“ sind zentrale Qualitäten in der Begleitung. Aktive Übungen sind hier nicht mehr zielführend – gefragt ist reine Präsenz. Eine Hand auf dem Herzen, der Klang einer Schale oder ein vertrauter Duft können wohltuend sein. Summen oder leises Singen sowie achtsames Sitzen am Bett laden zur Verbundenheit ein. Reaktionen sind oft minimal – etwa ein leichtes Fingerzucken oder ein veränderter Atemrhythmus – aber bedeutsam. Die Qualität der Berührung ist entscheidend: Sie sollte ruhig, warm und präsent sein. Hektische oder funktionale Berührungen wirken verstörend, während echte Präsenz tief berühren kann.

Berührung im Yoga mit dementen Menschen: kraftvoll, heilsam, und immer wieder anders

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Berührung ist eines der kraftvollsten Mittel der Kommunikation bei Menschen mit Demenz – wenn sie richtig dosiert wird. Naomi Feil hat in ihrer Arbeit gezeigt: Die Art, wie ein Mensch auf Berührung reagiert, hängt stark von seinem Demenzstadium, seinen biografischen Prägungen und seinen emotionalen Grundbedürfnissen ab. Für den Yogaunterricht bedeutet das: Berührungen brauchen Vorwissen, Fingerspitzengefühl, Timing und Respekt. Richtig eingesetzt, entfaltet Berührung hier eine besondere Kraft: Sie macht den Körper wahrnehmbar. Sie schafft Beziehung und Orientierung, besonders dort, wo Sprache versagt. Sie aktiviert das Körpergedächtnis – Erinnerungen an frühere Erfahrungen erwachen. Sie löst Spannungen, körperlich wie seelisch. Sie vermittelt: Du bist gesehen, gehalten, angenommen.

Demenz als Lehrmeisterin des Jetzt. Yogaleitlinien aus der Praxis

Führt man die Erkenntnisse der Validation nach Naomi Feil, das aktuelle Wissen über Demenz, die Essenz des Yoga und die Erfahrungswerte aus meiner gelebten Yogapraxis mit Betroffenen zusammen, lassen sich folgende Leitlinien formulieren: Bevor du deine Yogastunde beginnst, frage dich nicht: „Was will ich vermitteln?“, sondern: „Was braucht diese Person jetzt, um sich sicher und gesehen zu fühlen?“

  • Zuhören mit Herz, Augen und Körper:
Yogalehrende sind nicht nur Anleitende, sondern Mitfühlende – mit weichem Blick, langsamer Sprache, achtsamer Präsenz. Beim Anleiten der Übungen geht es ausserdem darum, die Leibsprache des dementen Gegenübers zu erlernen, d.h. den körperlichen Ausdruck und die Bewegungen wahrzunehmen, spontan darauf einzugehen, sowohl in der wörtlichen Anleitung als auch in der Gestaltung der Übungen.

·      Empathie und Geduld statt Korrektur:

Menschen mit Demenz sollten nicht korrigiert, sondern ermutigt werden. Positive Verstärkung ist wichtig. Als Yogalehrende bedeutet das unter Umständen, gewohnte Muster zu hinterfragen – etwa die Vorstellung, dass Lob im Yogaunterricht fehl am Platz sei. Im Kontext mit Demenz gilt: „Richtig“ ist das, was sich für den Menschen gut anfühlt.

  • Klare, einfache Sprache verwenden:

Die verbale Anleitung sollte in kurzen, direkten Sätzen erfolgen. Abstrakte Begriffe oder komplexe Erklärungen sind zu vermeiden. Klare Sprache unterstützt das Verständnis und reduziert die kognitive Belastung.

  • Vormachen statt beschreiben:

Übungen sollten möglichst visualisiert werden. Das bedeutet: nicht nur beschreiben, sondern aktiv vormachen. Visuelle Hinweise – etwa durch Gestik, Mimik oder begleitende Bilder (z.B. Drehsitz auf dem Stuhl: „Wie eine Schraube“) – helfen den Teilnehmenden beim Erfassen und Nachvollziehen. Selbst in fortgeschrittenen Stadien der Demenz bleibt die Fähigkeit zum Nachahmen häufig erhalten.

  • Einen Spannungsbogen schaffen:

Klare Zäsuren, kurze Zeitspannen pro Aktivität, ein deutlicher Wechsel der Inhalte und regelmäßige Zwischenpausen sind hilfreich, um Aufmerksamkeit zu ermöglichen. Die Pausen können sinnvoll zum Beispiel mit kurzen Weisheitsgeschichten, einem Lied oder (möglichst bekannten) Gedichten gestaltet werden.

  • Sinnliche Reize als Wegweiser:

Menschen mit Demenz orientieren sich weniger an abstrakten Anleitungen, sondern an sinnlich erfahrbaren Impulsen. Deutliche visuelle, taktile und auditive Reize helfen, Bewegungen besser zu erfassen, Sicherheit zu gewinnen und mit allen Sinnen im Moment anzukommen (z.B. Klangschale auf die Hände stellen: Vibration als sinnlich erfahrbare Verbindung).

  • Wiederholung schafft Sicherheit:

Übungen sollten regelmäßig wiederholt werden. Die Wiederholung von Bewegungsabläufen gibt Orientierung, stärkt das Vertrauen und erleichtert das Wiedererkennen. Vertraute Übungen können auch bei kognitiven Einschränkungen einen Zugang zum eigenen Körper ermöglichen.

  • Rituale geben Halt:

Ein wiederkehrender Ablauf innerhalb der Yogastunde – zum Beispiel mit einer festen Begrüßung, einem zentralen Übungsblock und einer abschließenden Entspannung – schafft Struktur und Orientierung. Rituale fördern das Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit.

  • Individualisierung auf zwei Ebenen:

Die Yogapraxis sollte flexibel auf die jeweilige Tagesform der Teilnehmenden abgestimmt werden. Menschen mit Demenz erleben häufig starke Schwankungen in ihrer Verfassung, sowohl im Laufe eines Tages als auch von Tag zu Tag. Pausen, Verkürzungen oder Modifikationen sind daher essenziell. Zugleich braucht es eine sensible Anpassung der Asanas an die körperlichen Voraussetzungen der Einzelnen. Aufgrund des meist hohen Alters und der häufigen Multimorbidität in dieser Zielgruppe ist es wichtig, Einschränkungen und Erkrankungen individuell zu berücksichtigen. Auch Erkenntnisse aus der Sturzprophylaxe können hier gewinnbringend integriert werden.

  • Adaptiertes Pranayama:

Der Atem kann erfahrbar gemacht werden, wenn er mit Selbstberührung, Klang, Bewegung und bildlichen Beschreibungen verbunden wird. Gerade bei Menschen mit Demenz, bei denen kognitive Zugänge nur noch eingeschränkt ober überhaupt nicht mehr greifen, kann durch diese Mehrfachansprache tieferes Erleben, Orientierung im Körper und ein Gefühl von Gegenwärtigkeit entstehen.

  • Biografiearbeit als Brücke:

Übungen mit bekannten Liedern, vertrauten Themen oder Bewegungen aus der Lebenswelt der Teilnehmenden schaffen emotionale Resonanz. Biografisch verankerte Elemente – etwa das Nachahmen alltäglicher Tätigkeiten wie „Apfel pflücken“ oder „Tischtuch ausbreiten“ – ermöglichen Zugang zur Erinnerung und fördern die Freude am Mitmachen. Es bietet sich an, im Raum eine kleine Themeninsel zu gestalten mit vertrauten Dingen, die Erinnerungen wecken und das Stundenthema sinnlich erfahrbar machen. Pflegekräfte sind wertvolle Verbündete, wenn es darum geht, biografische Spuren zu entdecken und die Stunde persönlich und berührend zu gestalten.

Das, was bleibt

Das ist Yoga für demente Menschen: Ein sicherer Raum, in dem nicht der Verlust im Vordergrund steht, sondern das, was bleibt. Die Atmung. Die Berührung. Die Stille. Das Herz. Demente Menschen werden dich vielleicht nicht als Person wiedererkennen. Aber sie werden sich an deine Herzlichkeit erinnern – an das Gefühl, gesehen und gehalten worden zu sein. Und vielleicht ist das das Kostbarste, was Yoga schenken kann.

Wenn Du mehr über Yoga mit demenziell veränderten Menschen erfahren oder selbst unterrichten möchtest, melde Dich gern bei Yoga Austria – durch eine Weiterbildung begleite ich Dich gern auf diesem Weg. Derzeit arbeite ich außerdem an einem Buch zu diesem Thema.

[1] Ausführlicheres zu den Studien inklusive Literaturangaben vgl. Kollak, Ingrid (2019): Yoga in Vorsorge und Therapie. Fachbuch mit Übungen für Atmung, Bewegung und Konzentration, Hofgrefe Verlag, S. 26 und S. 192-196.

[2] Bhattacharyya, Kallol Kumar; Andel, Ross; Small, Brent J. (2021): Effects of yoga-related mind-body therapies on cognitive function in older adults: a systematic review with meta-analysis. In: Archives of Gerontology and Geriatrics, 93, Article 104319.

[3] Vgl. World Health Organization (2021): Global status report on the public health response to dementia, https://www.who.int/publications/i/item/9789240033245.

[4] S.o. Fußnote 1.

[5] S.o. Fußnote 2. Zum aktuellsten Stand der Studien zu den Auswirkungen von Yoga und Meditation auf Gehirn und Nerven und die damit assoziierten Erkrankungen siehe Brittany Fair (2024): Die Neurowissenschaft hinter Yoga und Meditation. Wie aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung in die Praxis übertragen werden können, um die positiven Effekte auf Gehirn und Nerven zu nutzen. Riva Verlag.

[6] Müller-Hergl, Christian (2003): Die Herausforderung sozialer Beziehungen. In: Schindler, Ulrich: Die Pflege demenziell Erkrankter neu erleben. Mäeutik im Praxisalltag. Vincentz Network, S. 83.

[7] Huub Buijssen (2014): Die magische Welt von Alzheimer. 30 Tipps, die das Leben mit Demenzkranken leichter und erfüllter machen. Beltz Verlag.

[8] Naomi Feil; Vicki de Klerk-Rubin (2023): Validation: Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Schlütersche Verlagsgesellschaft.

 

Autorin:

Birgit Huber, Dr. rer. soc., Yogalehrerin BYO/EYU, Zertifizierte Aus- und Weiterbildungen sowie langjährige Unterrichtserfahrung für „Bewegung mit dementen Menschen“ und „Adaptives Yoga für Menschen mit speziellen Bedürfnissen“ sowie Übungsleiterin für Rollator Training und Sturzprophylaxe.

Quellen Bilder

  • Chair Yoga : Chat GPT, Open AI
  • Diagramm Demenz: https://de.statista.com/infografik/1705/geschaetzte-faelle-von-demenz-weltweit/

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