Selbstberührung und Atem als heilsame Kräfte – Peter Cubasch im Gespräch

Im Vorfeld des nächsten BYO-Seminars mit Peter Cubasch in Wien, im November 2025, hat Alexandra Eichenauer-Knoll den leidenschaftlichen Forscher zum Thema Atem und Körper befragt. Spannend!
Lieber Peter! Du hat bereits 2023 ein Seminar für unseren Verband abgehalten, das auf sehr gute Resonanz gestoßen ist: „Gähnen und Lachen – zwei natürliche Impulse für Entspannung und Atemvertiefung.“ Nun kommt ein neuer Impuls dazu: die Selbstberührung. Wie bist du auf dieses Thema gekommen, du hast ja in deinem Erstberuf Sportwissenschaften, Musikerziehung und Pädagogik studiert und dich später in das Thema integrative Therapie sowie Atemtherapie vertieft. Dein Forschergeist rund um die Themen Leib und Atmen brachte dich dann zum Lachen und später zum Gähnen als wichtige Leibimpulse. Ist die Auseinandersetzung mit der Idiopraxie der logische nächste Schritt?
Peter Cubasch: Selbstberührung habe ich schon lange vorher entdeckt und zuerst in der Ausbildung zum Atemtherapeuten in ihrer Wirksamkeit erlebt. Dort war es üblich, Körperregionen, die wir in die Wahrnehmung bringen und für den Atem öffnen wollten, zu berühren. Hand auflegen, sanftes Streichen oder auch Klopfen und kräftiges Massieren können Empfindung und den Atem an alle Orte des Körpers locken, auch an „versteckte“ und weniger deutlich gespürte oder von der Wahrnehmung vollkommen abgespaltene Regionen.
Selbstberührung ist seither ein fester Bestandteil in meinen Atem-, Atem- und Gähnkursen oder in der Psychotherapie. Wenn das Menschen erleben, sind sie berührt – körperlich und seelisch. Besonders häufig höre ich von älteren Personen den Satz: „Nun musste ich so alt werden, um zu lernen, wie ich mir auf so einfache Weise etwas Gutes tun kann.“ All diese Erfahrungen der vergangenen 40 Jahre haben mich dazu motiviert, irgendwann ein Buch über Selbstberührung zu schreiben. Das ist nun geschehen, zusammen mit Markus Böckle.
Ich finde es bewundernswert, wie deine Arbeit Mut machen kann – für natürliche, und daher naheliegende energetische und heilsame Impulse. Trotzdem ist gerade das Naheliegende oft schambesetzt. Gähnen, laut lachen, aber auch singen, seufzen oder stöhnen. Wie steht es um die Selbstberührung, tun wir uns damit leichter?
Selbstberührung ist natürlich und uns Menschen genauso vertraut wie das Lachen, Gähnen, Seufzen und Dehnen. Aber dennoch tun wir uns auch mit der Selbstberührung nicht immer leicht. Sie wird rasch mit Selbstbefriedigung gleichgesetzt und diese wiederum ist für viele Menschen mit Heimlichkeit, Scham, Irritation und Verboten verbunden. Dies ist ein trauriger Aspekt unserer Jahrhunderte alten Leibfeindlichkeit. Selbstverständlich gehört zum Thema Selbstberührung auch die Selbstbefriedigung, aber ebenso viele andere Selbstberührungen, die wir meist gar nicht bemerken: Selbstberührung am Mund oder an den Lippen, um uns zu beruhigen, Halten oder Kratzen am Kopf, wenn wir uns konzentrieren, Nasebohren, Nägelkauen oder das alltägliche Waschen, Abtrocknen und Eincremen. Auch Selbstberührungen, welche die Kommunikation begleiten, gehören dazu: beispielsweise Verlegenheitsgesten oder verlockende Selbstberührungen beim Flirten, wie das Streichen über die eigenen Haare. All diese Formen und Anlässe stellen ein umfangreiches, spannendes und bisher kaum erforschtes Thema dar, das uns sehr faszinierte.
Du hast ein Buch mit deinem Therapeutenkollegen Markus Böckle geschrieben, der ebenfalls in Wien lebt und arbeitet. Das Buch hat den Titel „Idiopraxie: Die Kraft der Selbstberührung. Ein Handbuch für Selbsthilfe und helfende Berufe“ und erscheint im August 2025. Was war sein Part, was deiner? Und warum gerade mit diesem Kollegen? Was schätzt du an ihm besonders?
Markus Böckle und ich sind beide Psychotherapeuten im selben Therapieverfahren: der Integrativen Therapie, in welcher der Leib eine zentrale Rolle spielt. Wir kennen uns auch aus der Atemarbeit und dem Gähnen. Markus hat rasch die tiefgehende Bedeutung der Selbstberührung und ihr noch ungenutztes Potential für die Körper- und Psychotherapie erkannt. Als erfahrener Wissenschaftler kann er die Brücke zur Forschung schlagen, die meiner erfahrungsorientierten Herangehensweise eine wertvolle Grundlage gibt; eine wunderbare Ergänzung also. Erfreulicherweise wird die Idiopraxie inzwischen schon an zwei Universitäten – in Graz und in Zürich – in klinischen Studien erforscht.
Gähnen und Yoga passen sehr gut zusammen und wird ja auch von zahlreichen Kolleginnen geübt, u.a. von mir. Wenn ich jetzt über Selbstberührung nachdenke, fallen mit Übungen ein, den Atem zu spüren und zu locken. Selbstberührung passiert da meist über die Hand, aber nicht nur. Meint ihr auch Erfahrungen, wenn der Bauch die Oberschenkel berührt oder die Stirn das Knie? Diese Kontakte lösen ja auch Spürerfahrungen aus.
Selbstberührung und Yoga passen auch gut zusammen. Es gibt ganz unterschiedliche Selbstberührungen in diversen Asanas – und nicht nur mit den Händen: Hände und Füße auf den Beinen beim Lotussitz, eine Fußsohle am Oberschenkel bei Baum, bei der sitzenden Vorbeuge, beim Kopfstand, Schulterstand, Tänzer, Hahn, Krähe, Adler, Kuhgesicht, Drehsitz, aneinandergelegte Hände bei Tadasana und die sich berührenden Hände beim Namaste-Gruß.
Beiden Übungs- und Lebensformen – Yoga wie Idiopraxie – geht es auch um eine differenzierte Innenwahrnehmung, um die Propriozeption. Für jeden Menschen ist es möglich, die verschiedenen Gewebe und Organe zu spüren. Mit geweckter Empfindungsfähigkeit und Achtsamkeit können wir sogar das Gleiten der Lunge an den Wänden des Brustkorbs spüren. Auch das ist Selbstberührung, genauso wie der Lidschlag, die Berührung der aufeinander liegenden Lippen oder die Selbstberührungen beim Schlucken und Sprechen.
Eine sich selbst berührende Person ist zugleich berührende und berührte Person in Personalunion, das macht die Idiopraxie so einzigartig. Intentionale Idiopraxie ist Selbstwahrnehmung und Selbstregulation in Eigenverantwortung, ein lebendiger Wahrnehmungs- und Handlungskreis in freundlicher Selbstzuwendung. Ich denke, das gilt auch für Yoga. Beiden geht es auf der Metaebene darum, die eigene Lebendigkeit zu spüren und das Bewusstsein zu erhöhen.
Du bietest mit Markus Böckle einen ganzen Lehrgang zur Idiopraxie an. Er behandelt u. a. therapeutische Themen wie Körperschemastörungen, selbstverletzendes Verhalten, Bindungsstörungen, Beziehungstraumata, Mangelerfahrungen. Das Yogasetting ist – sofern es nicht explizit Yogatherapie ist – hingegen ein pädagogisches Setting. Es geht um einen lebenslangen Lernweg, um das Erspüren von Selbstwirksamkeit, um Prävention. Gibt es einen Unterschied in der konkreten Übungsweise?
Ja, wir haben schon mehrere Workshops gegeben und Vorträge zur Idiopraxie gehalten. Nun, nach dem Erscheinen unseres Buches, wollen wir dazu eine Ausbildung anbieten. Sie wird spätestens Anfang 2026 beginnen und es gibt dafür noch freie Plätze. Der Lehrgang soll sowohl für Pädagog:innen wie für Therapeut:innen ansprechen. Wir gehen davon aus – so wie auch Ruth Cohn, die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion – dass es keine Trennung zwischen Pädagogik und Therapie geben sollte. Gute Erziehung/Pädagogik verhindert spätere Therapie und Therapie sollte immer auch gute nachträgliche Pädagogik/Erziehung sein.
Möchtest du uns noch vorab etwas mitteilen?
Mich begeistert, mit welcher Offenheit und Neugier der Verband sich auf so innovative Themen wie Gähnen, Lachen und Selbstberührung einlässt. Das ist großartig! Ein vielseitiges Wissen über Selbstberührung und die Fähigkeit, Idiopraxie bewusst in den persönlichen Alltag zu integrieren und Intentionale Selbstberührung im Beruf gezielt anzuwenden, wird jede Form von Körperarbeit – sei sie pädagogisch oder therapeutisch – bereichern. Ich freue mich sehr, dass ich dieses Thema schon bald im BYO vorstellen kann.
Lieber Peter, wir freuen uns schon sehr auf dein Seminar!
„Idiopraxie: Die Kraft der Selbstberührung. Ein Handbuch für Selbsthilfe und helfende Berufe“
von Peter Cubasch und Markus Böckle